Hallo Sammlerfreunde,
wer der Auffassung ist, "markenlosen" Portobriefen fehle es an Charme, sei einmal zur Betrachtung des nachstehenden eingeladen. Es handelt sich um ein im Oktober 1859 in St. Petersburg aufgegebenes Schreiben an das Fräulein Johanna Claus, Adrss: Herrn Nestler, Vorsteher einer höheren Bildungs-Anstalt für junge Damen Neustadt a.d.Haardt. Ich gehe vom Inhalt her davon aus, dass es nicht ganz vollständig war und es noch eine Einlage gegeben hat.
Denn wenn man so - sehr dankbarer Weise - an anderer Stelle hier im Forum liest, dann muss es von der Taxierung her ein Doppelbrief mit 1-2 Loth Gewicht gewesen sein, was ich glaube auch an dem blauen 2x vorne links zu erkennen. Von St. Petersburg lief der Brief nach Ostpreussen, was an dem rückseitig abgeschlagenen Bahnpoststempel Königsberg-Bromberg vom 03.11.1859 deutlich wird.
Ich gehe davon aus, dass dort die 2 x 10 Kopeken = 20 Kopeken für den russischen Anteil mit 6 Sgr in blauer Tinte auf der Rückseite angeschrieben worden sind. Wenn man 1 Sgr exakt mit 3,5 Kr (rhein.) gleichsetzt, dann errechnen sich 21 Kr, die mit den im Postverein zu veranschlagenen 2 x 9 Kr = 18 Kr das vorderseitig ebenfalls in Blau notierte Gesamtporto vom 39 Kr ergeben. Mit dem Durchgangsabschlag Frankfurt am Main vom 05.11.1859 stellt sich der Laufweg nach Neustadt a.d.Haardt (Ankunft am 06.11.1859) insgesamt recht gut dar.
Nun zur sog. social-philately, die es m.E. schon ein klein wenig in sich hat. Glücklicherweise hat sich Manfred Penning in einem Beitrag vom 28.11.2011 in der Rhein-Main-Presse vertiefend mit dem Inhaber der im Briefkopf eingeprägten Firma Ludwig Marx beschäftigt (vgl. http://www.allgemeine-zeitung.de/region/mainz/m…en/11514302.htm). Demnach gründete der 22-jährige Carl Ludwig Marx aus Jugenheim / Rheinhessen im Jahre 1822 zusammen mit Eduard Ernst die Materialwarenhandlung Marx & Ernst in der Gaugasse in Mainz.
1834 begann Marx mit der Herstellung von Lacksystemen basierend auf Leinöl, Copal, Bernstein und Schellack. Mit dem industriellen Bleichen von Schellack begann er etwa 1845. Zum Polieren von hellfarbigem Holz, wie Ahorn-, Pappel- und Lindenholz, ist die eigentümlich braune Farbe des rohen Schellacks eher störend, selbst wenn man die hellste Sorte dieses Harzprodukts auswählt. Für solche Fälle wendet man gebleichten Schellack an.
Um den wachsenden osteuropäischen Markt besser bedienen zu können, errichtete C.L.Marx bereits im Jahre 1857 ein Zweigwerk in St. Petersburg in Russland. Ein weiteres Werk in Gaaden bei Wien folgte 1873. Im Jahre 1871 beschäftigte die Lackfabrik Ludwig Marx bei Mainz-Zahlbach - Marx hatte dort 1854 eine neue Lackfabrik erbaut und die Lackherstellung in der Gaugasse aufgegeben - 46 Mitarbeiter und produzierte 750 Tonnen an Lackprodukten und Schellack. Die Spezialität des Unternehmens waren Wagenlacke für Eisenbahnen. C.L.Marx starb am 20.07.1895 in Wiesbaden.
Ich gehe davon aus, dass der Absender F.W. Claus ein Mitarbeiter der Fa. Ludwig Marx in St. Petersburg war und aufgrund des Aufbaus der russischen Zweigstelle seine Tochter daheim in Neustadt a.d.Haardt ins Internat geschickt hat. Leider finden wir offensichtlich nicht den ganzen Briefinhalt vor, dafür aber die interessante väterliche Anmerkung im P.S. des Schreibens, das werte Töchterlein brauche seine Briefe an den Herrn Papa nicht zu frankieren !
Schönen Gruß
vom Pälzer