Kurt Karl Doberer
Rauten und gekrönte Löwen
Geschichte der bayerischen Briefmarke
München: F. Bruckmann, 1972
204 Seiten und vier Farbtafeln
Format 18,1 x 24,6 (gebundene Ausgabe)
nur noch antiquarisch zu beziehen
Das ist heute kaum noch vorstellbar: In einem Jahr – 1972 – erscheinen zwei Bücher zur Geschichte der bayerischen Briefmarke, die sich an ein breiteres Publikum richten: „Rauten und gekrönte Löwen“ von Kurt Karl Doberer und „Bayerisches Briefmarkenalbum“ von Erwin Maderholz. Zu dieser Zeit herrscht die Nostalgiewelle; Altes aus der Zeit der Großeltern ist plötzlich „in“, junge Menschen beginnen sich für die Heimat und ihre Geschichte zu interessieren – und Briefmarkensammeln ist noch ein Volkssport. Da sehen zwei Verlage aus München, deren Programm stark regional zugeschnitten ist, natürlich gute Absatzchancen für ein Buch, das alle diese Zielgruppen anspricht. Beide Autoren haben ihre Meriten. Maderholz ist als Leiter des Postarchivs in München und regelmäßiger Lieferant von Aufsätzen im „Archiv für Postgeschichte in Bayern“ dem Süddeutschen Verlag als Fachmann hochwillkommen; Doberer wiederum ist Journalist und Sachbuchautor, der nicht nur einschlägige Bücher wie „Schwarze Einser, rote Dreier. Kleine Kulturgeschichte der Briefmarke“ (1967), „Briefmarkensammeln mit Gewinn“ (1968 ) und „Philatelie für Kenner“ (1970) verfasst hat, sondern auch das besitzt, was man unter seinesgleichen als „flotte Schreibe“ bezeichnet – ein Routinier also.
Doberer, 1904 in Nürnberg geboren, steht zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Rauten und gekrönte Löwen“ schon jenseits des Rentenalters. Sein philatelistisches Spezialgebiet sind Essais und Probedrucke, vor allem der altdeutschen Staaten, ein Thema, dem er 1963 sein erstes philatelistisches Buch widmet. Sein erstes philatelistisches, wohlgemerkt, denn er hat bereits eine Reihe von Werken über Kulturgeschichte und Technik sowie einige utopische Romane veröffentlicht.
Der Lebenslauf dieses Autors ist nämlich nicht geradlinig, sondern kennt deutliche Brüche. Nach dem Maschinenbaustudium an der Höheren Technischen Staatslehranstalt in Nürnberg bereist er Nordafrika und den Nahen Osten, nimmt nach zeitweiliger Berufstätigkeit noch einmal ein Studium auf (diesmal Publizistik, er arbeitete bereits während des Studiums für die Presse), engagiert sich politisch bei der SPD und beim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und gerät bald in Konflikt mit dem Nationalsozialismus. Als Doberer 1933 ins Visier der Gestapo gerät, geht er ins Exil. In der Tschechoslowakei arbeitet er weiter journalistisch, schreibt Erzählungen und Romane, darunter die antifaschistische Utopie „Republik Nordpol“; 1938 gelingt ihm die Flucht nach England. Doberer kämpft auch hier publizistisch gegen Hitlerdeutschland, u.a. bei der BBC. Erst 1949 kehrt er nach Deutschland zurück.
Wie Doberer unter diesen Umständen Zeit findet, sich eingehend mit der Philatelie zu beschäftigen, geht aus den Biographien nicht hervor. Sie nimmt jedoch in seinem Leben einen immer größeren Stellenwert ein. Artikel aus seiner Feder erscheinen seit Beginn der Fünfzigerjahre in der Schweizer Fachpresse, auch die einschlägigen deutschen Magazine drucken seine Beiträge. 1956 wird er zum vereidigten Sachverständigen für Briefmarken bestellt. Er engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft I/6 Bayern (deren Leitung er von Herbst 1955 bis Herbst 1957 übernimmt) und im BDPh (als Pressereferent), ist auch als Prüfer im Gespräch.
Wenn man all diese Voraussetzungen bündelt, ist es kein Wunder, dass „Rauten und gekrönte Löwen“ sich als eine gelungene Synthese des Kenntnisstands über bayerische Briefmarken und Ganzsachen, vermischt mit eigenen Forschungen und Fragestellungen, entpuppt. Das Buch liefert den Hintergrund zu den meist dürren Angaben der allgemeinen und der Spezialkataloge. Das Thema wird trittsicher und überwiegend chronologisch abgearbeitet, beginnend bei einem allgemeinen Überblick der Postgeschichte von der alten Reichspost über den Aufbau der bayerischen Postverwaltung bis zur Einführung der Briefmarken. Die einzelnen Ausgaben werden detailreich vorgestellt, mit Zitaten aus den jeweiligen Einführungsverordnungen. Auch Nebengebiete wie Telegraphenmarken, Telefonbilletts und die privaten Postanstalten kommen zum Zuge.
Eingehend schildert Doberer den schwierigen Weg von der langlebigen Wappenserie zu den bildhaften Marken der Prinzregenten- und Ludwigausgaben, der manchmal auch in Sackgassen mündete, wie ein Wettbewerb von 1908 zeigte. Besonders ausführlich beschreibt er das Werden der Dienst- und Abschiedsserien, aber auch die Nachwehen, die sich in den verschiedenen Aufdruckserien ausdrücken.
Doberer schöpft nicht unbedingt aus archivalischen, aber wenigstens aus vielen und oft sauberen Quellen: Johann Brunner und Erich Stenger sowie Joseph de Hesselle gehören zu den Gewährsleuten, die oft ausgezeichneten Einzelbeiträge aus dem „Archiv für Postgeschichte in Bayern“ und Material aus dem Rundbrief der ArGe Bayern werden ebenfalls ausgewertet. Besonderen Wert legt er auf die Gestaltungsgeschichte der einzelnen Marken, deren Entwürfe und Druckverfahren. Daraus leiten sich auch Hinweise ab, warum bestimmte Marken seltener sind als andere oder worin sich Plattenzusammenstellungen unterscheiden. Er gibt Einblicke in die Forschung, etwa wie die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft zu einer genaueren Farbabstufung der 9 Kreuzer grün gekommen sind, und benennt Ungereimtheiten in den Katalognummerierungen. Seine Warnungen davor, allzu großen Wert auf Farbunterschiede zu legen, sind vorsichtig, aber deutlich formuliert. Interessanter sind für Doberer Details wie die vier „runden Ecken“ der 3 Kreuzer rot. Diese Entdeckung behielt er zunächst für sich. Einer seiner Mitstreiter bei der ArGe Bayern, Georg Winkler, schrieb 1961: „Jahrelang verfolgte Ag-Leiter Niedermeyer die Blickrichtung [der] Vergrößerungsgläser [Doberers] bei allen Gelegenheiten und kam auch schließlich hinter das weiterhin wohlbehütete Geheimnis.“
Kleine Schwächen des Buchs auszumachen ist aus heutiger Sicht keine Kunst. Es konzentriert sich, seinem Titel gemäß, auf die Briefmarken und die Ganzsachen. Postgeschichte findet über die Erwähnung der Mühlradstempel oder des Postvereins und seiner Folgen hinaus praktisch nicht statt. Das in dieser Hinsicht nicht unwichtige Werk von Wilhelm Eisenbeiß, „Bayerische Post- und Briefkunde“ von 1962 kommt in der Literaturliste nicht vor. Der Übergang von der Taxis-Post zur Staatspost findet, so wie er hier geschildert wird, 1806 statt, nicht 1808. Die Klassifizierung der letzten Kreuzermarken mit dem Wasserzeichen weite Welle als eine Art Abschiedsausgabe, so rätselhaft die Beweggründe für diese Emission auch sind, wirkt ein wenig weit hergeholt.
Für denjenigen, der sich erst einmal gründlich und buchstäblich „einlesen“ und sich einen Überblick verschaffen will, ist das Buch allerdings noch immer ein äußerst empfehlenswerter Einstieg. Wer ganze deutsche Sätze mehr schätzt als Kataloge und ihre Preisnotierungen, bekommt mit diesem Buch eine abgerundete und ausführliche Darstellung, die auch nach mehr als vierzig Jahren kaum überholt ist.
Es gibt übrigens eine Neuauflage von 1990, deren Layout und Bebilderung allerdings keinen wirklichen Fortschritt darstellt; die geringen inhaltlichen Korrekturen, für die der Autor noch herangezogen werden konnte (Doberer starb 1993), haben das Original nicht überflüssig gemacht. Wenn man es antiquarisch bekommen kann (und meistens ist es nicht einmal teuer), stellt es noch immer eine Bereicherung für den eigenen philatelistischen Bücherschrank dar.
Kurt Karl Doberer dürfte auch einer der wenigen Philatelisten sein, denen in ihrem Heimatort eine eigene Straße gewidmet wurde. Dafür standen wohl vor allem seine kommunalpolitischen Verdienste und sein langjähriges ehrenamtliches Engagement Pate. Die Kurt-Karl-Doberer-Straße liegt im Nordosten der Stadt.
-> Weiterlesen