Hallo,
hier ein Brief, den ich jüngst erwerben konnte und der für mich einige Fragen aufwirft.
Abgesandt am 23.7.66 in (Bad) Soden von Juliet Souchay de la Duboissiere (https://gw.geneanet.org/henri61?lang=e…&p=juliet+maria), der Ehefrau von Robert Lucius, an Ihren Mann bei der preußischen Armee (Adresse "6. Curassier-Regiment, I. Armee, Mähren"), erwies sich der Brief als Irrläufer und kam Wochen später wieder zurück.
Robert Lucius (später geadelt zu Robert Lucius Freiherr von Ballhausen), Leutnant im 6. Kürassier-Regiment, war Arzt, Gutsbesitzer (Schloß Kleinballhausen https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Kleinballhausen), Politiker und später preuß. Staatsminister und Freund von Bismarck: https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Lucius_von_Ballhausen, sowie https://www.deutsche-biographie.de/sfz54585.html#ndbcontent
Der Bruder Eugen war Mitbegründer der Hoechst AG, und die Familie von Lucius' Ehefrau Juliet stammte ursprünglich aus Frankfurt und war vor vielen Jahren nach England ausgewandert, wo Juliet auch geboren war. Der Brieftext enthält mehrere Passagen in englischer Sprache.
Der Brief ist schon deshalb so interessant, da er von Soden im Herzogtum Nassau, das auf der österreichisch/süddeutschen Seite stand, an einen preußischen Offizier unter der Feldpost-Franchise versandt wurde. Und hier beginnen meine Fragen:
1. Man hat in Soden (und dann in Frankfurt) nicht realisiert, dass der Empfänger bei der preuß. Armee war, sondern wähnte ihn auf österr. Seite. Vermutlich kam man im nassauischen Soden nicht auf die Idee, dass Briefe an feindliche Offiziere aufgegeben werden würden.
2. Offensichtlich hat man die Portofreiheit nicht in Anwendung gebracht, da der Brief zunächst nicht als Feldpostbrief erkannt wurde. Stammt die handschriftliche 20 aus Soden? Ein Portobrief im Postverein über 20 Meilen hätte 4 Sgr = 20 NKr gekostet. Und die Taxierung sollte in der Währung der Abgabepost erfolgen. Auch in Frankfurt (das seit einigen Tagen preußisch besetzt war) wurde der Fehler nicht erkannt, sondern der Brief nach Österreich weitergeleitet.
3. In Österreich begann jetzt die Suche nach dem Empfänger, den man im 6. Kürassier-Regiment wähnte, das bei der 1. Reserve-Kavallerie-Division der Nordarmee war. Der Brief wurde im August vom K.K. Feldpostamt No. 2 behandelt und nach Ungarn geschickt (Stempel PAPA vom 3.9., und handschriftliche Angabe "Veszprim"). Vermutlich nahm man bei der erfolglosen Suche nach dem Empfänger an, dass er einer Reserveeinheit des 6. KR, das wechselnde Garnisonen in Ungarn hatte, angehören könnte. Jedenfalls war nach wie vor kein Empfänger zu ermitteln (rückseitig handschriftlich "Ist nicht im 6. Cürass.Regt."), und der Brief ging zurück nach Wien (Stempel 10.9.).
4. Von dort ging der Brief via österr. ziviler Post über Frankfurt (12.9.) zurück zum Aufgabeort Soden (Stempel 12. und 13.9.). Dort hat man dann den Brief - vermutlich nach Abreise seiner jetzt nicht mehr in Soden weilenden Gattin - an den Wohnort (Schloß) Klein-Ballhausen bei Erfurt gesandt.
5. Mehrere Stempel auf der Rückseite sind unleserlich abgeschlagen. Darunter könnte der Stempel aus Veszprim sein, wo man den Empfänger ja erfolglos gesucht hatte.
6. Die Tatsache, dass Lucius' Ehefrau aus dem nassauischen Soden schrieb, dürfte darin begründet sein, dass Schloss Klein-Ballhausen offenbar zeitweilig nicht bewohnbar war bzw. nicht zur Verfügung stand (Passage im Brieftext: "Ich mußte an unser armes verlassenes Ballhausen denken – ob wir wohl noch diesen Sommer irgend einen Genuß daran haben? Ich möchte doch gerne wissen wie es aussieht und ob die Sachen gut kommen..."
7. Es gibt ein Pendant zu diesem Brief, welches fast identisch gelaufen ist. Ich bin z.Z. noch dabei, mit einem Experten für preuß. Feldpost (D. Friedewald aus Halle) die mysteriösen Leitwege zu entschlüsseln.
8. Wichtig wäre noch zu wissen, wo die Taxierungen angeschrieben wurden. Wie gesagt, ich bin der Meinung, dass die blaue 20 taxis'schen Ursprungs aus Soden ist. Dort wurde m.E. auch der Vermerk "pro 12 ret" (also am 12. retour, nach Klein Ballhausen) angebracht. Oder stammt die "20" aus Österreich? Und wo wurde die 3 (3 Sgr?) angeschrieben? Müsste eine österr. Portotaxierung nicht 4 (Sgr) lauten?
Für Korrekturen und Ergänzungen wäre ich sehr dankbar!
Hier noch die Transkription des relevanten Briefinhalts:
"Soden, Montag der 23te Juli 1866
Mein theuerster liebster Robert!
Gestern – Papa’s Geburtstag war ein guter Tag – er brachte mir morgens deinen Bf. vom 13ten u. abends deine Zeilen vom 11ten. Aber beinah noch besser – er brachte Nachmittags eine Zeitungsnachricht [Waffenstillstand zwischen Preußen und Österreich am 22.7.66], die auf Frieden hindeutet, die heute eher noch bestätigt wurde. So steigen einmal wieder die Hoffnungen auf endliche Ruhe nachdem man in letzter Zeit wieder recht muthlos geworden war. Gott wende alles zum Besten – in jedem Fall wenn das Blutvergießen ein Ende hat, so ist ein großer Schritt geschaffen – u. dann bleibt noch viel anderes ganz Großes was vollbracht werden muß! Ich sehne mich recht danach einmal mit dir über alles zu sprechen und dich darüber sprechen zu hören. Aus verschiedenen Gründen thut man es nicht gerne brieflich. Von den Fkfern [=Frankfurtern] sind wir noch ziemlich abgeschnitten, denn obzwar allerdings die Bahn nun wieder geht [Freigabe der Main-Weser-Bahn am 20.7.66], so wagen sich die Leute nicht gerne weit vom Haus. Der gerechten Klagen gibt es viele! Ich bin selbst in höchstem Maaß erstaunt. Vor einigen Tagen wurden von der Stadt [Frankfurt] 6000000 fl. requiriert – seit 3 Tagen aber noch 25000000 dazu. Diese scheint man nicht gut auftreiben zu können oder zu wollen u. man ist nun sehr gespannt auf das nächste. Die Erbitterung ist sehr groß.
Gallnitz also ist etwas beschädigt worden. Mir ist es sein- und deinetwegen recht leid, daß du dich von ihm trennen mußtest – gewiß fehlt er dir sehr. Man hat dir aber hoffentlich einen anderen Burschen gegeben? Es ist mir ganz sonderbar ihn mir in Berlin vorzustellen während du Armer in Hitze, Staub, manchmal auch Regen u. Kälte so große Strapatzen aushalten mußt. Ich hoffe zu Gott du bleibst gesund dabei – und bist jetzt in besserer Lage.
Am Ende in Wien selbst! Welche fürchterliche Consternation für die armen Östreicher. Ich war bis gestern in großer Aufregung u. Angst, beständig an die schauderhafte Schlacht denkend die ihr noch an der Donau schlagen würdet. – Aber heute denke ich es ist möglich daß am Ende nichts draus wird. Gebe Gott daß der [österreichische] Kaiser nachgibt und beide Armeen vor noch mehr Elend verschont! Hier zu Land hieß es vor einigen Tagen, es würde nun nichts mehr gehen, dann daß Mainz noch erobert werden müßte, - jetzt heißt es wieder daß die Bundesarmee sich wieder irgendwo gesammelt u. in dichtester Nähe zu Frft. [Frankfurt] stände – kurz man weiß nicht was man glauben soll!
Diese Bundesarmee spielt eine zu lächerliche Rolle. Aber für sie selbst ist die Rolle doch tragisch, denn sie wird von Pontis zu Pilati geschickt und die Kräfte der armen Leute dabei ganz aufgerieben.
Wir haben heute in Höchst Besuch gemacht but found all the birds flown [=aber alle Vögel waren ausgeflogen]. Sie waren nach Fft. Es scheint ein Theil der Gesellschaft ist sehr ängstlich und sie überlegen es sich, Frau Reister und die Kinder irgendwo an den Rhein zu schicken indessen ich denke, Eugens kommen bald u. erzählen uns den Entschluß. Es ist dort so reizend. Papa u. ich brachten eine köstliche Stunde im sonnigen Garten zu, wo die Blumen in vollster Pracht stehen u. Wein u. Aprikosen u. Pfirsiche en masse stehen. Ich mußte an unser armes verlassenes Ballhausen denken – ob wir wohl noch diesen Sommer irgend einen Genuß daran haben? Ich möchte doch gerne wissen wie es aussieht und ob die Sachen gut kommen. Ich höre von Erfurt daß obgleich Klara von Victor nichts direktes gehört hat, er doch nach der Schlacht [von Langensalza am 27.6.66] gesehen worden ist. That’s a comfort!...
Danach kommen rein familiäre Berichte...