Liebe Sammlerfreunde,
Die
nachstehend gezeigte italienische Ganzsachen-Postkarte zu 10 Cent.
mit Wertstempel König Umberto ist philatelistisch nichts Besonderes.
Obwohl eigentlich für den Inlandsverkehr vorge-sehen, wurden diese
Karten häufig ins Ausland versandt: Die Gebühr war die gleiche.
Interessanter ist schon die Entwertung mit einem Achteckstempel einer
„collettoria“ 1. Klasse, einer Postanstalt mit einem
eingeschränkten Leistungsangebot.
Noch
interessanter ist der rückseitige Text. Ein Ingenieur Pavia bestellt
in fehlerfreiem Deutsch bei dem Optiker und Mechaniker Ebert in
Merseburg an der Saale zwei Zwicker (eine damals durchaus moderne
bügellose Brillenform). Die Karte wurde am 2. Juli 1899 in ISELLE
(TRASQUERA) abgesandt und kam zwei Tage später in Merseburg an.
Als
ich nach diesem Ort bei Wikipedia gesucht habe, erfuhr ich zu meiner
Überraschung, dass es sich dabei um den Bahnhof am Südportal des
Simplon-Tunnels auf italienischem Gebiet handelt. Im italienischen
Wikipedia wird noch auf die Zollstation auf der Straße zum
Simplon-Pass hinge-wiesen. Als die Karte im Sommer 1899 geschrieben
wurde, gab es den Simplon-Tunnel allerdings noch gar nicht. Mit den
Bauarbeiten war erst ein Jahr zuvor begonnen worden. In Iselle
befanden sich die Baustelleneinrichtung und die Unterkünfte für die
mehreren Tausend Arbeiter, die sich bis 1906 unter schwierigsten
Bedingungen durch den Berg bohrten und sprengten. Auch eine
Poststelle befand sich dort.
Der
Bau des Simplon-Tunnels war dem deutschen Ingenieurbau-Unternehmen
Brandt, Brandau & Cie. übertragen worden, das auf Tunnelbau
spezialisiert war. In einem zeitgenössischen Bericht habe ich die
Bemerkung gefunden, dass „sich die Unternehmung mit einem tüchtigen
Ingenieur-Personal umgeben hat“. Ich vermute, dass dazu auch der
Ingenieur Pavia gehörte. Zu ihm habe ich allerdings keinerlei
Angaben gefunden (was aber vermutlich an meiner unterentwickelten
Fähigkeit zur Internet-Recherche liegt – vielleicht können hier
Spezialisten helfen ?). Auffällig ist für mich sein fehlerfreies
Deutsch, trotz des italienisch klingenden Namens.
Zum
Optiker und Mechaniker Theodor Ebert bin ich im Merseburger
Stadtarchiv fündig gewor-den. Er lebte von 1832 bis 1928 und hatte
seit den 1880er Jahren einen Betrieb in der Mersebur-ger Innenstadt.
Dieser war sehr breit aufgestellt, wie sich aus Rechnungen ergibt,
die im Stadtarchiv aufbewahrt werden.
Ich
würde nie auf die Idee kommen, dort aus dem Ausland eine Brille zu
bestellen. Es muss wohl eine persönliche Beziehung zwischen dem
Herrn Ebert und dem Ingenieur Pavia bestanden haben. Vielleicht kann
ein Sammlerfreund zur Klärung beitragen.
Für
mich ist es ein interessanter Fakt, dass eventuell ein Merseburger
einen winzigen Beitrag zum Bau des gewaltigen Simplon-Tunnels
beigetragen hat, der für Jahrzehnte der längste Tunnel der Welt
war.
Beste Grüße
Jürgen