Wissenschaft vs. Philatelie? Zu einer Rezension des Buchs von Joachim Helbig: Postvermerke auf Briefen 15.-18. Jahrhundert

  • In einer Rezension in einem akademischen Netzwerk (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id…atum&order=down) setzte sich vor kurzem der Historiker Oswald Bauer mit den Inhalten des Buchs von Dr. Helbig auseinander. Bauer beschäftigt sich, das sei vorausgeschickt, ausweislich seiner Veröffentlichungen vor allem mit den Fuggerzeitungen, einer Korrespondenz aus Europa und Übersee, die das Handelshaus in Augsburg vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bestens mit Informationen versorgte.

    Wer nun Bauers Besprechungstext liest, bekommt rasch den Eindruck, dass er mit dem Buch nicht viel anfangen kann. Hauptvorwurf gegen Helbig - mehrfach im Text aufgegriffen und variiert - ist in seinen Augen der Mangel an „Kontextualisierung und Systematisierung im Lichte bereits vorliegender Forschungsarbeit“. Damit sind hoffentlich nicht jene wie Fremdkörper in Monographien stehenden Theoriekapitel gemeint, die belegen müssen, dass der Verfasser mit interdisziplinären Methoden forscht (Wissenschaftstheorie, Wahrnehmungspsychologie, Kommunikationswissenschaft, Verhaltensforschung und - ganz wichtig - Gender-Diskussion) und fähig ist, schlechtes Deutsch zu schreiben. Wer darauf verzichtet, setzt sich nämlich leichtfertig dem Verdacht aus, sich nur mit Oberflächenphänomenen auseinanderzusetzen.

    Dass die „postalischen Flächen“, die Hinweise auf die Beförderungspraxis bieten, also genau das, was Helbig ans Licht holt, bisher kaum auf Interesse bei der akademischen Forschung gestoßen sind, gesteht Bauer immerhin zu. Doch gleich anschließend steht wieder der pauschale Vorwurf im Raum, Helbig habe sich nicht mit den jüngeren Forschungen zur Postgeschichte (!) vertraut gemacht. „Dementsprechend fehlt ein wichtiges Element, das es erlaubt hätte, Helbigs Fragestellung im Lichte des Forschungsstands zu kontextualisieren.“

    Was soll dieses beständige, sinnlose Hämmern auf „Kontextualisierung“? Wenn Bauer die von ihm pauschal in den Raum gestellte, offenbar reiche Literatur (Quellennachweise werden gerne entgegengenommen) kennt, hindert ihn zweifellos nichts daran, die von Helbig aufgeworfene Fragestellung auch selbst in einen Zusammenhang einzuordnen. Beschäftigen müsste er sich halt einmal mit ihr.

    Wenn man mit einem Buch und seiner Fragestellung nichts rechtes anfangen kann, dann darf man das offen sagen. Man muss dann noch nicht einmal einen theoretischen Überbau bemühen. Auch wenn man noch am Anfang seiner akademischen Laufbahn steht.

    Viele Grüße aus Erding!

    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Lieber Erdinger,

    danke für deinen Beitrag. Da ich das Buch auch besitze und gelesen habe, darf ich mir ein Urteil darüber erlauben.

    Ich weiß nicht, ob es sich nur auf die Erforschung der Post- und Kommunikationsgeschichte festmachen lässt, aber alle Werke dieses Genres scheinen gerne von Dritten kritisiert oder gar zerrissen zu werden. War hier jemand neidisch, diese Korrespondenz nicht gekannt und damit ausgewertet zu haben?

    Wir Sammler und Postgeschichtler sollten froh sein, dass es Arbeiten gibt, die hochinteressante, posthistorische Aspekte zum Thema haben. Diese Autoren zu fördern muss das Ziel sein, nicht die Forschungswege und Ergebnisse zu diskreditieren. Den Anfang einer akademischen Karriere kann man besser hin bekommen.

    Liebe Grüsse von bayern klassisch

    Liebe Grüsse vom Ralph

    "Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen." Vicco von Bülow aka Loriot.


    • Offizieller Beitrag

    Hallo die Runde

    Der Rezensionsschreiber Bauer hat leider hier im Forum keine Möglichkeiten sich zu wehren.


    Ich habe auch das Buch gelesen, mehrmals, und viel Freude damit gehabt. Mir reicht es, ich muss dieses Buch nicht als Historiker lesen, aber als Sammler. Ein Historiker will es sicher ganz anders lesen als der Sammler.

    Was der Bauer schreibt finde ich interessant. Ich stelle mich aber nicht gleich hinter seine Wörter. Man muss aber nicht ausser die Augen haben dass ein Rezension eine subjektive Meinung ist. Oft kann Rezensionen neues Licht in bringen so dass man ein Buch besser verstehen kann.

    Dieses Thread war für Rezensionen gemeint, und ich hoffe dass es mal einen kommt. :)

    Viele Grüsse
    Nils

  • Hallo auch in die Runde :) ,

    es gefällt mir gut, was meine kompetenten Vorredner schreiben.
    Besonders Nils Meinung gefällt mir immer sehr gut, da er die Objektivität
    in Person ist, was oft weiter hilft. :thumbup:

    Nun ich habe von dem geschätzten Joachim Helbig das Nachfolgewerk und auch
    Bayrische Postgeschichte 1806-1872.
    Beide Werke gefallen mir ausserordentlich gut und haben mein Verständniss der Philatelie
    erweitert, was will man als engagierter Sammler mehr erwarten?
    Und ich gehe mit Bayern Klassisch und Erdinger-Solche Werke gilt es zu unterstützen, denn
    die Philatelie wird oft erst zu dem, was wir an Ihr schätzen, wenn es die niveauvolle Literatur
    Ihr ermöglicht.

    Insofern würde ich, ohne die Boker Kataloge, die Doberer Literatur, die Arge Rundbriefe,
    die Müller-Mark und Grobe Handbücher, die niveauvollen Auktionskataloge, Feuser, Deider
    und Co , das überaus hilfreiche Sem Handbuch, das hervorragende Werk von Oskar Menzinger,
    mit dem ich mich noch persönlich austauschen konnte und nicht zuletzt die niveauvollen Bücher des
    Herrn Joachim Helbig, um nur einige zu nennen, immer noch einzelne Marken in ein Vordruckalbum
    sortieren, was dem Klischee des 08/15 Sammlers leider sehr entsprechen würde.

    Es ist jedoch, dank einiger engagierter Menschen in und um unsere Arge, in diesem Forum und
    in der realen philatelistischen Welt, ein anspuchsvollerer Weg geworden, über den ich dankbar
    bin, ohne andere Wege der Philatelie in Abrede zu stellen.

    Nur zu diesem Weg gehört gute Literatur, wie zum Segeln das Wasser und ich kann den (noch) jüngeren
    Sammlern nur sehr empfehlen in gute Literatur zu investieren, bevor Sie die ersten Belege kaufen.


    Herzliche Grüsse
    Oliver

    Beste Grüsse von
    Bayern Social


    "Sammler sind glückliche Menschen"

    Einmal editiert, zuletzt von Oliver (18. Oktober 2011 um 10:55)

  • Mir reicht es, ich muss dieses Buch nicht als Historiker lesen, aber als Sammler. Ein Historiker will es sicher ganz anders lesen als der Sammler.

    Hallo Nils,

    das ist, wie ich meine, der Kernpunkt einer solchen Beurteilung. Das Buch ist für Sammler geschrieben und nicht für Historiker.
    Ich erinnere mich an die seinerzeitige durchweg positive bis euphorische Berichterstattung über Helbigs "Bayrische Postgeschichte", die auf einer Dissertation basierte. Mit entsprechenden Erwartungen bestellte ich das Buch und war maßlos enttäuscht, weil der Inhalt zumindest den wissenschaftlichen Ansprüchen der Fachbereiche, die mir vertraut waren, nicht genügte. Gleichwohl nutze ich dieses Werk bis heute, weil es für Sammler wichtige Informationen enthält.

    Die Postgeschichte als Bindegleid zwischen Verkehrs- und Kommunikationsgeschichte scheint es generell schwer zu haben, sich als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Möglicherweise trägt dazu bei, daß von Sammlern für Sammler erstellte Publikationen wissenschaftlichen Ansprüchen nur selten genügen. Es läßt sich aber beobachten, daß deren Niveau in der jüngeren Vergangenheit erheblich gestiegen ist. Wenn sich das fortsetzt, erübrigen sich solche "Verrisse" wie der dargestellte.

    Beste Grüße

    Altsax

  • Hallo Altsax.

    Es ist immer wieder ein Genuss, Deine Beiträge zu lesen, treffen sie doch den Nagel immer auf den Kopf, und man muss sich selbst nicht mehr um eine Formulierung der eigenen Gedanken bemühen. :thumbup: :thumbup:

    Daher vielen Dank und beste Grüße von maunzerle :thumbup:

    "Ein Leben ohne Philatelie (und Katzen) ist möglich, aber sinnlos!" (frei nach Loriot, bei dem es allerdings die Möpse waren - die mit vier Beinen wohlgemerkt)

  • Werte Runde!

    Sehr interessante Beiträge. Ich habe den Eindruck, daß die historischen Wissenschaften einfach nicht akzeptieren wollen, daß Briefe eine wesentliche Erkenntnisquelle sind. Ich stelle mir Archäologen als lustiges Volk vor, würden sie Fundstücke einfach negieren! Postgeschichte gibt es nur im Zusammenhang aller bestimmenden Faktoren, wovon einer das Fundstück Brief ist. Da kann man sehr schön Quellen zitieren, Umstände einpassen, Zusammenhänge herstellen … und von der Position: "so war es und diesen Stellenwerte hatte es ..." überzeugt sein und dann tauchen ein paar Briefe auf, die vielleicht genau diese „Erkenntnis“ in Zweifel ziehen. Da kann der Wissenschaftler einen Sachverhalt (ohne Fundstück Brief) noch so schön in den von ihm gewählten Kontext eingepaßt haben. Ganz offen: ich möchte wissen, wie der Postbetrieb gelaufen ist, welche Hürden es gab und welche Dienste er leisten konnte und da kann ich auf die Erkenntnisquelle – die natürlich nur eine ist – nicht verzichten. Gegen Realitätsverweigerer ist kein Kraut gewachsen und leider sitzen solche überall.
    Noch etwas zum Helbig-Buch über die Boten. Soviel mir klar ist, sollte an Hand der gefundenen Korrespondenz einmal gezeigt werden, wie wenig wir noch gesicherte Informationen haben, sprich: wir haben noch zu wenig Archivmaterial über die Verwaltung, zu wenig Rechtsgrundlagen gesehen, um einen solchen Fund abschließend deuten zu können. Der Fund ist eine Diskussionsgrundlage und eine Anregung an alle, die das Buch gelesen haben, selbst aktiv zu werden.
    Auch diesem Buch wird es (hoffentlich) beschieden sein, in einigen Bereichen ergänzt zu werden. Ebenso war es bei Helbig's Buch über die bayerische Postgeschichte. Es wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als noch sehr wenige in solchen Zusammenhängen und Bezügen gedacht haben. Heute sind wir aber viele entscheidende Schritte weiter und können etliche Kapitel mit anderem Wissensstand betrachten! Das ändert nichts an dem für mich bahnbrechenden Charakter dieses Buches.

    Die Conclusio lautet also: Tun wir was!

    Herzlichen Gruß
    hk1190

    • Offizieller Beitrag

    Sehr interessante Beiträge. Ich habe den Eindruck, daß die historischen Wissenschaften einfach nicht akzeptieren wollen, daß Briefe eine wesentliche Erkenntnisquelle sind.

    Hallo die Runde

    Ich weiss nicht wie es in Deutschland ist, welche historischen Epochen als wichtig gerechnet werden. In Norwegen ist Postgeschichte kaum geachtet, auch nicht von die Sammlern. Aber es ist nicht nur Postgeschichte der nicht geachtet wird. Als ich Student war und nigerianische Geschichte studierten, war es kaum jemand der Interesse an unsere Gefunden hatten. In Norwegen gilt nur die zweite Weltkrieg + etwas Wikingerzeit. Alles anderes ist ohne Interesse an die Universitäten, Zeitungen oder sonst wo. Will man ein Doktorabhandlung schreiben, ja dann ist es schwierig was anderes als das Normale zu schreiben. Man soll bei uns froh sein wenn man ein Publikum finden kann.

    Dann zu die Briefe. Die Briefe haben sicher wissenschaftlichen Interesse wenn die etwas sagen können. Es kommt nur darauf an welche Quellen man sucht. Welche Aussagekraft kann ein Brief haben. Schreibe ich Sozialgeschichte hat die Vermerke kaum eine allgemeine Bedeutung, aber den Briefhalt schon ab und zu. Schreibt man Kommunikationsgeschichte hat die Vermerke eine grössere allgemeine Bedeutung, muss es aber nicht. Hier muss jeden Historiker für sich antworten.

    Man kann es auch umgekehrt fragen. Wie viel Sozialgeschichte gibt es in postgeschichtliche Bücher, oder auch Kommunikationsgeschickte? Etwas politische Geschichte schon. Hat man bei Postgeschichte keine Anerkennung von die anderen Gebieten? Ist Postgeschichte nur die Vertrage und Verordnungen, oder ist den Innhalt eigentlich wichtiger als das Wesen selbst?

    Hier kann man viele Fragen stellen und viele Antworte geben. Wenn wir wichtig finden was wir treiben, ja dann ist es auch wichtig. Vielleicht nicht für alle, aber sicher führ mehrere als die es Heute interessant finden. Und lass uns hoffen dass Postgeschichte niemals vernachlässigt wird.

    Die Conclusio lautet also: Tun wir was!

    Hoffentlich kommt es noch andere Bücher von Helbig. Hoffentlich kommt es auch Bücher von anderen. Hoffentlich ist die Qualität immer steigend.

    Was wir hier machen können ist immer was neues zu zeigen, frei die Beitrage diskutieren, höflich neue Mitgliedern begrüssen, Toleranz gegenüber andere Meinungen haben und so weiter und so weiter. So können wir hoffentlich neue Selen für unseren Hobby fangen. :thumbup:

    Viele Grüsse
    Nils

    • Offizieller Beitrag

    Mit Interesse habe ich die Rezension von:
    Oswald Bauer: Rezension zu: Helbig, Joachim: Postvermerke auf Briefen 15.-18. Jahrhundert. Neue Ansichten zur Postgeschichte der frühen Neuzeit und der Stadt Nürnberg. München 2010, in: H-Soz-u-Kult, 11.10.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/…onen/2011-4-022.
    studiert. Besonders wichtig für meine eigene Arbeit über Ratinger Postgeschichte im weiten Sinne sind folgende Passagen der Rezension (rote Buchstabenfarbe von mir):
    Richtig ist allerdings Helbigs Hinweis darauf, dass die Post gerade im 16. Jahrhundert nicht nur eine Einrichtung der Taxis-Familie war. Er spricht sich für einen sinnvoll erweiterten Postbegriff aus: „Dann stellt sich jede Institution als ‚Post’ dar, die neben ihrer Zugänglichkeit für jedermann Kriterien wie Regelmäßigkeit, Zuverlässigkeit, Sicherheit, Schnelligkeit und Entlohnung erfüllt“ (S. 10). Demnach seien neben der Taxis’schen Post sowohl städtische als auch fürstliche Botenanstalten als gleichwertig anzusehen.

    Recht hat er!

    Meine Arbeit über Ratinger Boten- und Postgeschichte von 1276 bis Anfang des 19. Jahrhunderts will einen Beitrag zu der oben zitierte These von Helbig und seinem erweiterten (besser ausgedrückt: optimierten) Postbegriff leisten.
    von Blau444

    Hallo Die Runde

    Zitat oben ist an blau444`s Wünsch hier eingestellt geworden.

    Viele Grüsse
    Nils / blau444