Ungarn und der Erste Weltkrieg

  • Hallo in die Runde,

    nachfolgender Brief kam mir die Tage in die Hände:

    Brief aus Budapest vom 8. August 1914 nach Amsterdam.
    Frankiert ist der Brief mit 10 Filler der Turul-Ausgabe - der eigentliche Tarif wäre 25 Filler gewesen (was oben rechts auch angeschrieben war), was in Amsterdam prompt mit 15 C. Nachporto "honoriert" wurde.
    Das eigentlich Interessante aber ist die Tatsache, dass der Brief - sage und schreibe - über 8 Monate (!) unterwegs war und dabei auch noch die britische Zensur durchlief.
    Der rückseitige Ankunftsstempel von Amsterdam datiert vom 18. April 1915, die Portomarke ist am 16. entwertet.

    Die Frage die sich mir nun stellt, warum und wo kam der Brief überhaupt in britische Hände ?

    Dass ein Brief in den ersten Augusttagen 1914 etwas länger quer durch Europa benötigte, ist nachvollziehbar - aber - wie lief denn normalerweise ein Brief von Budapest nach Amsterdam?
    Am naheliegensten erscheint mir der Weg Budapest-Wien-München-Frankfurt-Köln-Amsterdam - es wäre also kein Land der gegnerischen Kriegsparteien tangiert.
    In einer anderen Variante hätte der Brief über den Seeweg (also durchs Mittelmeer um Spanien rum durch den Kanal) befördert werden müssen, um in britische Hände zu gelangen.
    Weiß jemand Rat?

    Beste Grüße
    Postgeschichte-Kemser


  • Hallo Schorsch,


    ich nehme es vorweg: Du liegst mit Deiner "easy-way-Annahme" Budapest-Wien-München-Frankfurt-Köln-Amsterdam zwar voll daneben, darfst Dich aber genau deswegen mehr als glücklich schätzen. Das Ding ist eine Bombe: Die Niederlande sind, trotzdem sie schon vor Kriegsausbruch deutlich gemacht hatten, dass "man sie nichts anderes, als in Ruhe lassen möge", in eine ziemlich unglückliche Lage geraten. Schon am am 31. Juli 1914 ordnete die niederländische Regierung die vollständige Mobilisierung ihrer Wehrpflichtigen mit 200.000 Mann, darunter Reserven und regionale Milizen an.


    Als aufgrund der Umsetzung des Schlieffen-Plans mit Einmarsch deutscher Truppen in - dem eigentlich auch neutralen - Belgien die ersten Zivilopfer zu beklagen waren, haben die Niederlande dann vorsorglich die Grenze zu Deutschland dicht gemacht. Umgekehrt befürchtete man auf deutscher Seite das Einsickern von feindlichen Spionen aus England oder Frankreich über die Niederlande. Auch wollte man die Flucht von Kriegsgefangenen in die Niederlande unterbinden. Wer nun die Grenze passieren und in das Nachbarland reisen wollte, brauchte eine Sondergenehmigung und einen Ausweis.


    Obwohl das Kaiserreich schon ein Tag nach Kriegsausbruch, d.h. am 2. August 1914 den Niederlanden gegenüber die Neutralitätsgarantie aussprach, blieb die niederländische Grenze zwei Wochen lang gesperrt. Erst als man sich sicher war, dass die deutsche Streitmacht darüber hinweg nicht einmarschieren würde, wurde sie wieder geöffnet. In genau diese Phase fällt nun Dein Beleg, der in der Konsequenz der geographischen Lage der Niederlande nur noch eine Zustellmöglichkeit via Schiffspost über den Ärmelkanal hatte.


    Dort war wiederum aber - ebenfalls - kurz nach Kriegsausbruch die britische Northern Patrol eingerichtet worden, die gerade am Anfang des Krieges alles, was über neutrale Schiffe - gerade - aus mit dem Kaiserreich verbündeten Ländern kam mit "Doppel-Argusaugen" kontrolliert, teilweise gar nicht oder - wie hier - nur sehr verzögert weitergeleitet hat. Die Briten und Franzosen befürchteten nicht zu Unrecht, dass sich zwischen der deutschen und niederländischen Grenze ein reger Schmuggel zugunsten des Kriegsgegeners entwickeln konnte, was dann vor allem - teuer bezahlte - Lebensmittel betraf.


    Dieser Beleg ist ein Paradebeispiel dafür, dass man ohne den geschichtlichen Hintergrund zu kennen, (s)einen (Seltenheits-)Wert nicht bemessen kann.


    Nochmals Glückwunsch und schönen Gruß

    Tim


    verwendete Quellen:

    https://de.wikipedia.org/wiki/…ter_und_Zweiter_Weltkrieg)

    http://www.grenzgeschichte.eu/Endarbeiten/Facharbeit_Geschichte-A.-Dumke.pdf

    Der Erste Weltkrieg in den Niederlanden - Eerstewereldoorlog.nu

    Niederlande im Ersten Weltkrieg

    Dinxperlo und Suderwick im 1. Weltkrieg | euregio-history.net

    Ausweispflicht als Kriegsmaßnahme | euregio-history.net

    Wer um Postgeschichte einen Bogen macht, läuft am Schluss im Kreis

    Einmal editiert, zuletzt von Pälzer ()

  • Das ist wahrlich ein außergewöhnlicher Brief aus den Anfangstagen des ersten Weltkriegs. Interessant ist natürlich die Information, dass die deutsch/niederländische Grenze in den ersten 2 Wochen geschlossen war. Trotzdem kam die Geschäftspost durch. Das belegt mein erster Beitrag im thread zur Prüfungsstelle für Geschäftsbriefe in Stuttgart und ich habe noch einen Beleg aus Annaberg vom 08. August 1914 im Archiv, der auch in die Niederlande lief. Gemeinsam für beide Belege ist die etwas längere Laufzeit von 6 Tagen. Was das zu bedeuten hat kann ich nicht sagen. Ich habe erst vor kurzem einen kleinen Posten Zensurbriefe aus Berlin von August/September 1914 an den Empfänger Hope & Co in Amsterdam ergattern können. Der erste Brief stammt vom 17. August 1914, also in der Zeit nach der Grenzschließung, und alle haben eine kürzere Laufzeit von 2 bis 3 Tagen.

    In den ersten 2 Augustwochen wurde keine private Auslandskorrespondenz im Deutschen Reich weitergeleitet. Nur Geschäftspost wurde transportiert. Da dieser Beleg aus Ungarn keine ungarische oder deutsche Zensur aufweist, ist er durch Deutschland wohl nicht weitergeleitet worden.

    Die Frage ist jetzt natürlich was die KuK-Postverwaltung für Alternativen hatte. Ich könnte mir vorstellen, dass neutrale Schiffe in Triest Post in Richtung Niederlande angenommen haben und im Ärmelkanal von den Briten kontrolliert wurden. Das ist natürlich nur Spekulation und man muß noch mehr Belege haben, um konkretere Aussagen machen zu können.

    Auf jeden Fall ist das ein - für mich - neuer Aspekt, den man im Auge behalten sollte.

  • @Tim - Du bist ja (wieder einmal) der Hammer !
    Herzlichen Dank für Deine Detailrecherche, für die ich - ehrlich gesagt - die Zeit in dem Umfang nicht aufbringen könnte.
    Der Instinkt hat mir zwar gesagt, dass der Brief etwas Besonderes ist, aber die Details dazu sind natürlich jetzt das "Sahnehäubchen".

    Was ich mich jedoch frage, ob angesichts des kurzen Zeitfensters die Postverwaltungen/Zensurstellen in diesen extrem turbulenten Zeiten immer auf dem Laufenden waren.
    Die Ausführungen von @württemberger zeigen ja, dass es offensichtlich auch Ausnahmen gab.
    Ich bin mir sicher, es gab noch viel mehr "Varianten" in dieser Anfangszeit.

    Beste Grüße, nochmals herzlichen Dank und Fohe Weihnachten
    Schorsch

  • Morschen Schorsch,


    Was ich mich jedoch frage, ob angesichts des kurzen Zeitfensters die Postverwaltungen/Zensurstellen in diesen extrem turbulenten Zeiten immer auf dem Laufenden waren.

    Eigentlich ja. Die Postüberwachung war lt. Riemer (Düsseldorf 1987, S.6) Teil des Mobilmachungsplanes des Deutschen Reiches von 9.10,1913 (Anlage "J", §§ 9, 10). Für die Niederlande war ja dann ausschließlich die Postüberwachungsstelle Emmerich zuständig. Die hatte nach Kriegsausbruch ad hoc eine Menge zu tun, so dass man aus dem dort ansässigen VII. Armeekorps sogar solche Angehörige abziehen musste, die fremde Sprachen beherrschten. Wenn Dein Brief aus Ungarn dort eingetrudelt wäre, dann hätte man wohl erst einmal festgestellt, dass er A) in Ungarn selbst nicht überprüft und B) nicht wie für die Zensur vorgeschrieben offen aufgeliefert worden ist.


    Ob dann in Emmerich auch unzensierte Transitpost bspw. aus Ungarn mit überprüft worden wäre weiss ich nicht. Warum sollte Emmerich aber auch den Job noch übernehmen ? Solange etwa, bis sich Ungarn dazu bemüht hatte, das für seine Auslandspost selbst zu einzurichten ? Wenn dann anders sowieso erst mal nichts über die Grenze nach den Niederlanden gelaufen ist, dann könnte ich mir schon vorstellen, dass man in Budapest schon von vornherein zu einem Ausschiffungshafen wie von @Württemberger erwähnt bspw. Triest geleitet hat, wodurch der Brief dann eben in die Fänge der Northern Patrol geraten ist.


    Schönes Fest + Gruß!

    Tim

    Wer um Postgeschichte einen Bogen macht, läuft am Schluss im Kreis

  • Morschen Schorsch,


    Eigentlich ja. Die Postüberwachung war lt. Riemer (Düsseldorf 1987, S.6) Teil des Mobilmachungsplanes des Deutschen Reiches von 9.10,1913 (Anlage "J", §§ 9, 10). Für die Niederlande war ja dann ausschließlich die Postüberwachungsstelle Emmerich zuständig. Die hatte nach Kriegsausbruch ad hoc eine Menge zu tun, so dass man aus dem dort ansässigen VII. Armeekorps sogar solche Angehörige abziehen musste, die fremde Sprachen beherrschten. Wenn Dein Brief aus Ungarn dort eingetrudelt wäre, dann hätte man wohl erst einmal festgestellt, dass er A) in Ungarn selbst nicht überprüft und B) nicht wie für die Zensur vorgeschrieben offen aufgeliefert worden ist.

    Der Riemer geizt mit den Angaben genauer Daten, und deswegen sind seine Angaben auch immer mit Vorsicht zu betrachten. Im thread Zensurbelege steht im vierten Absatz, dass die Post in die Niederlande zunächst über die Zensurstelle Cöln Bahnpostamt 10 (Cöln-Deutz) zu leiten war. Erst später wurde die Post über Emmerich geleitet. Cöln-Deutz war am Anfang für so ziemlich alles zuständig: Luxemburg, Belgien, Niederlande etc.