Tagung: "Gezähnte Geschichte II. Philatelie und Postgeschichte als Teil der Geschichtswissenschaft"

  • Liebe Alle,

    das René ist natürlich vollkommen in Ordnung :)


    Ich schaffe es eben erst kurz die Beiträge zu lesen und finde die Diskussion sehr sehr wichtig, denn die hier diskutierten Probleme kenne ich auch aus unserem Universitätsumfeld. Wir haben über die Forschungsbibliothek in Gotha einige philatelistische Werke, die dort wohl über den dortigen Verein einmal abgegeben wurden, aber prinzipiell muss ich Philia recht geben. ein großer Teil der sogenannten grauen Literatur (also ohne ISBN oder nur in Kleinauflage veröffentlicht) findet sich an den Universitätsbibliotheken leider nicht. Selbst Michel-Kataloge sind nicht überall vorhanden. Das war auch die entscheidende Triebfeder, die Sammelbände nach den Tagungen in einem etablierten Wissenschaftsverlag zu veröffentlichen, da die zuständigen STellen in den UBs im Wesentlichen nur auf die Programme diese schauen.


    Man muss natürlich auch sagen, dass die Philatelie ein ganz kleiner Bereich der Geschichtswissenschaft ist und das meist so schon knappe Budget der Bibliotheken dann nicht dafür eingesetzt wird. Es wäre daher umso wichtiger, wenigstens eine der philat. Bibliotheken an eine UB "anzuhängen". eine Stadtbibliothek hilft da m.E. leider nicht viel, da auch diese meines Wissens nicht an den GVK (Gemeinsamer Verbundkatalog) der Universitätsbibliotheken angeschlossen ist.


    philia: was Deine Frage betrifft. Wir beschränken uns prinzipiell nicht auf die
    Geschichtswissenschaft, doch hat sie aufgrund der Zusammensetzung der Organisatoren (2 HistorikerInnen und 1 Philosoph) einen größeren Schwerpunkt. Prinzipiell ausschlaggebend ist jedoch das jeweilige Tagungsthema - dieses mal halt Philatelie allgemein und die Postgeschichte. Auf die Markenzeit sind wir nicht beschränkte, da wir denke ich das Thema mit dem ersten Band und der ersten Tagung "Die Briefmarke als historische Quelle" sehr ausführlich - wenn auch natürlich bei weitem nicht erschöpfend - behandelt haben. Für die Vorträge sind immer jeweils 45 Minuten (davon 20-25 Minuten für den Vortrag und etwa 20 Minuten für die Diskussion) eingeplant.


    Da wir die begleitende Buchreihe aber als wissenschaftliche Reihe begründet haben, ist diese nicht zwangsläufig an die Tagungen gebunden und wir würden uns auch sehr freuen, wenn andere mit Manuskripten zu uns kommen. Die Publikation ist zwar aufgrund des Verlages sehr teuer, dafür stehen die Bücher dann eigentlich auch national wie international in verschiedenen Bibliotheken (in Deutschland steht der erste Band derzeit glaueb ich in ca. 25 UBs). Das ist für uns ein ziemlich großer Schritt, weil das Them dadurch doch sichtbar wurde und es auch außerhalb der Philatelie ein paar Rezensionen gab.


    Aber der Weg zur Etablierung als anerkannte Hilfswissenschaft ist recht weit. Für den Historikertag 2020 wurden wir beispielsweise wegen Randständigkeit abgelehnt.


    Aber wir bemühen uns, auch wenn wir es derzeit alle nur in unserer Freizeit tun können. Aber auch hier versuchen wir gerade etwas Abhilfe zu schaffen und Projekte auf den Weg zu bringen.


    Viele Grüße,

    René

  • Hallo René,


    dass die Organisatoren des Historikertags das Thema als »randständig« bezeichnen, finde ich angesichts des diesmal gewählten Mottos »Deutungskämpfe« sogar begreiflich. Und bis etwas überhaupt in solch einen Kontext passt, muss es erst einmal die Wahrnehmungsschwelle übersprungen haben. In Eigenregie organisierte Tagungen und Workshops und die Erarbeitung von Grundlagen sind enorm hilfreich. Deshalb bin ich für eure Arbeit sehr dankbar und schon gespannt auf die nächsten Bände der Buchreihe.


    Mir ist auch klar, dass die Auffindbarkeit von Literatur in mehr als einer Hinsicht ein Problem darstellt. Heute steht die Überprüfbarkeit von wissenschaftlichen Arbeiten verstärkt im Fokus, d.h. auch die herangezogenen Vorlagen müssen möglichst rasch auffindbar sein. Wenn sich eine Arbeit auf einen hohen Prozentsatz an »grauer Literatur« stützt, lassen sich ihre Ergebnisse kaum mit vertretbarem Aufwand validieren. (Deshalb bemühe ich mich auch, in diesem Thread Hinweise zu geben, wo etwas zu finden sein könnte.)


    Philatelistische Arbeiten genügen übrigens selten wissenschaftlichen Ansprüchen. In den meisten Fällen wäre das angesichts der behandelten Themen auch zu viel verlangt, aber sehr häufig würde ich mir wünschen, dass wenigstens die verwendeten Quellen besser (oder überhaupt) angegeben würden. Allzu oft wird unkritisch übernommen, allzu selten überprüft. Ein Narrativ mit anekdotischen Zügen hat bisweilen größere Chancen auf dauerhafte Akzeptanz als eine mit zahllosen aktenkundigen Fakten unterfütterte Darstellung der prosaischen Realität, zumal Letztere sich in der Regel unangenehm auf den Wert von Sammelgegenständen auswirkt (Stichwort »SA/SS-Marken« oder »Potschta«).


    Die Digitalisierung hat das Hinterfragen liebevoll gehegter Narrative enorm erleichtert: Die Adresse oder die Absenderangabe auf einem Brief lässt sich anhand von eingescannten Adressbüchern überprüfen. Selbst für entlegenste Weltgegenden gibt es historische kartografische Darstellungen und aktuelle Satellitenbilder. Ganze Jahrgänge von historischen Zeitschriften und Zeitungen stehen als durchsuchbare PDFs zur Verfügung. Mit Karteien des Roten Kreuzes oder den Arolsen Archives ist es möglich, Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter aus der Anonymität der Masse zu holen und ihnen ein Gesicht zu geben. Schließlich gibt es noch Foren wie dieses, mit deren Hilfe sich gemeinsam Dingen auf den Grund gehen lässt.


    Man darf sich vielleicht nicht allzu große Hoffnungen auf die Anerkennung der Philatelie als förmliche Hilfswissenschaft machen. Die Numismatik verdankt ihren Vorsprung der Tatsache, dass gemünztes Geld sehr viel älter ist als die Briefmarke und daher als zusätzliche Quelle für Zeiten mit geringer Überlieferungsdichte herangezogen wird. Die neuere Geschichtswissenschaft hat dieses Problem tatsächlich nicht. Dafür kann die Philatelie als Aufhänger für kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragen dienen, für Themen aus der Institutionen-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte.


    Die Chancen standen noch nie so gut, die Qualität der Philatelie zu verbessern und der Wissenschaft ein neues Betätigungsgebiet zu verschaffen.


    Viele Grüße

    Dietmar

    Viele Grüße aus Erding!


    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Liebe Freunde,


    ich habe soeben die »Einführungsveranstaltung« (Präsentation von René Smolarski und anschließende Diskussion) per Zoom verfolgt. Ich finde das Format sehr interessant und kann es nur empfehlen. Ein bisschen Gewöhnung werde ich noch brauchen, aber bei mir hat zu meiner Überraschung alles auf Anhieb gut funktioniert.


    Weitere Vorträge gibt es hier:

    https://www.bdph.de/index.php?id=85

    Viele Grüße aus Erding!


    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Weitere Vorträge gibt es hier:

    https://www.bdph.de/index.php?id=85

    Guten Morgen und Danke an Erdinger für diesen Hinweis. Dort gibt es die Vorträge zum Teil auch als PDF. Ich erlaube mir einen Link bei Social Philately, weil Peter Hornung in seinem Vortrag das verdeutlicht wird, was mich schon lange umtreibt, weil unsere Poststücke neben postgeschichtlichen Aspekten noch wesentlich "mehr sagen können".


    Einen schönen Sonntag wünscht Luitpold

    "Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde." (Karl Jaspers. dt. Philosoph).

  • Liebe Freunde,


    vielleicht darf ich als Fazit aus der Diskussion bzw. dem Schlusswort von René Smolarski dieser Online-Veranstaltung noch folgendes mitteilen:

    • Philatelie ist bereits eine Wissenschaft, allerdings eine, die nach eigenen Regeln funktioniert.
    • Die Chancen für Philatelie als Hilfswissenschaft stehen eher schlecht, weil die Akademiker vor einer Fülle von aus ihrer Sicht kaum noch zu ordnendem Material stehen und in Zukunft eher der Komplex Big Data als Hilfswissenschaft in Frage kommen wird.
    • Die Schwerpunkte der Disziplinen Historiografie und Philatelie sind unterschiedlich, können sich aber fruchtbar ergänzen. Social Philately (also eine verstärkte Berücksichtigung der Inhalte, z. B. Feldpost), aber auch Transportwesen und Automatisierung sind Berührungspunkte. Es wird also eher beim Nebeneinander bleiben.

    Meiner Meinung nach sollten wir also zunächst eher pragmatisch an die Sache herangehen und weniger auf einen theoretischen Überbau abstellen. Sobald die Verbindungen etabliert sind, kommt erfahrungsgemäß mehr Zug in die Sache. Als ersten Schritt empfehle ich, eine wissenschaftliche Zentralstelle an einer Universitäts- oder Staatsbibliothek zu benennen, die schwerpunktmäßig Digitalisate sammelt, Linksammlungen vermittelt und Fernleihe organisiert. Das würde etatmäßig den Ball erst einmal flach halten.

    Viele Grüße aus Erding!


    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Hallo zusammen,

    hallo Dietmar,


    Ende der 60er Jahre war ich an der Uni in Frankfurt und habe über die „Briefmarken“ einen Geschichtswissenschaftler getroffen. Von der „Philatelie“ hatte ich keinen blassen Dunst. Hier erklärte mir der angehende Historiker, dass bei ihnen im Institut die Numismatik als Hilfswissenschaft angesiedelt sei. Die Philatelie werde das wohl nicht so schnell schaffen.

    Das nur so am Rande.


    Grüße aus Frankfurt

    Heribert

  • Ich habe mir den Einführungsvortrag von Rene Smolarski mit großem Interesse angehört und ich finde nicht, dass die Briefmarken bis zur Einführung der einheitlichen Markwährung eine unergiebige Quelle sind. Man könnte vielleicht mal der Frage nachgehen, warum alle süddeutschen Staaten zu Beginn Ziffernmarken herausgaben und später auf Wappenmarken umstellten. Wollten sie etwa dem mit dem Herrscherbild auf den Briefmarken selbstbewusst auftretenden Preußen etwas entgegensetzen? Auch Österreich hat zu Beginn gleich mal sein Staatswappen präsentiert. Thurn und Taxis in diesem Zusammenhang zu erwähnen führt in die Irre, weil gerade TuT viele politische Gebiete postalisch versorgte und somit gar keine Alternative zu Ziffernmarken hatte.

    Das Gebiet Germania ist ein (post)geschichtliches Minenfeld in dem sich schon viele Philatelisten verlaufen haben. Dort tun die Historiker gut daran alles kritisch zu hinterfragen, was sie von Seiten der Philatelie so vorgesetzt bekommen.

    Jetzt bin ich sehr gespannt wie die Reihe weitergeht und versuche auch einmal online dabei zu sein.

  • Hallo wuerttemberger,

    Zitat

    Man könnte vielleicht mal der Frage nachgehen, warum alle süddeutschen Staaten zu Beginn Ziffernmarken herausgaben und später auf Wappenmarken umstellten. Wollten sie etwa dem mit dem Herrscherbild auf den Briefmarken selbstbewusst auftretenden Preußen etwas entgegensetzen?

    der Vorlage entsprechender Aktenstücke mit zeitgenössischen Überlegungen dieser Art sehe ich mit Freuden entgegen. :) Ohne diese wird sich allerdings auch die Geschichtswissenschaft nur im Bereich des Spekulativen bewegen und Marken nebeneinanderlegen und vergleichen, wie es so viele Philatelisten schon vor ihr getan haben.


    Abgekupfert haben die Bayern den Aufbau mit sich überlagernder äußerer Umrahmung bei den Briten (oder bei ihren eigenen 10-Gulden-Scheinen, daher die Ziffern in den Ecken). Die Sachsen wiederum bei den Bayern, die Badener bei Bayern und Sachsen (allerdings gefielen in Karlsruhe die Rosetten in den Ecken besser als die kleinen Ziffern) , die Württemberger bei den Badenern und alle standen irgendwie unter Zeitdruck. Briefmarken waren damals für das Publikum so sehr Neuland wie das Internet für Frau Merkel, da waren die überdeutlichen Ziffern halt praktisch zur ersten Gewöhnung daran. (It’s the tariff, stupid!). So verschwenderisch wie die Bayern mit sage und schreibe vier Druckfarben für vier Wertstufen bis 1854 konnte man im sparsamen Südwesten nicht sein, wo man schwarz auf farbiges Papier druckte (ebenso wie im frugalen Preußen).


    Die Postverwaltungen haben untereinander Marken ausgetauscht, schon vor der UPU-Zeit. Auch damit ließe sich das Auftauchen und Verschwinden bestimmter Motive wie Herrscherköpfe oder Wappen begründen, weil selbst die Briefmarkengestaltung Moden unterlag. Als die Preußen den König als Markenmotiv schon längst aufgegeben hatten, dachten die Bayern darüber nach, das Porträt des ihren zum Markenmotiv zu erheben.

    Zitat

    Das Gebiet Germania ist ein (post)geschichtliches Minenfeld in dem sich schon viele Philatelisten verlaufen haben. Dort tun die Historiker gut daran alles kritisch zu hinterfragen, was sie von Seiten der Philatelie so vorgesetzt bekommen.

    Diese sehr umfassende Aussage bedarf für einen begriffsstutzigen Altbayern der Erläuterung. Denn beim Gebiet Germania scheint die Aktenlage zur Entwurfsphase gut zu sein, wie die im vergangenen Jahr angelaufene Ausstellung nahelegt. Da sind Historiker eigentlich nicht auf Philatelisten angewiesen, die ihnen etwas vorsetzen. (Haben sich die verlaufenen Philatelisten denn wieder angefunden? Oder ist die Germania auch noch am Dahinschwinden des BDPh beteiligt, weil sie wie der Minotaurus im kretischen Labyrinth Verirrte verspeist?)

    Viele Grüße aus Erding!


    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Hallo Dietmar,


    recht hast Du mit Deiner Darlegung, Ganz meiner Meinung, Etwas jedoch muss ich zurechtrücken: nicht die Bayern haben über eine "Königsmarke" nachgedacht, sondern ausschließlich Ludwig II.


    Grüße aus Frankfurt

    Heribert

  • Hallo zusammen,


    sehr interessante Entwicklung, vor allem das mit dem Beispiel des "Germania-Minenfeldes". Ich sitze jetzt - leider - schon seit lägerer Zeit an einem RB-Beitrag über die 7 1/2 Pf Germania Freistaat Bayern und habe mit Unterstützung von hasselbert bzw. der Phila-Bib in FFM schon sehr viel Material darüber erhalten. Ob jünger oder älter, in so manch einem Beitrag findet man dann halt schon Feststellungen aus der Historie ohne jegliche Quellenangabe.


    Vieles, so hat es bei dem einen oder anderen Autor den Anschein, wird als "längst allen bekannt" vorausgesetzt, so dass man sich jedwede Quellenangabe erspart. Das steht natürlich im deutlichen Widerspruch zum wissenschaftlichen Arbeiten der Historiker. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht jetzt nicht darum Lexikonwissen zu zitieren, wenn es aber in die Details geht, stelle ich mich für meinen Teil auf die Seite der Historiker.


    Viele Grüße

    vom Pälzer

    Wer um Postgeschichte einen Bogen macht, läuft am Schluss im Kreis

    Einmal editiert, zuletzt von Pälzer ()