Grüße von einem Neuankömmling

  • Hallo Philia,

    “Nobody ever notices postmen somehow,” he said thoughtfully; “yet they have passions like other men, and even carry large bags where a small corpse can be stowed quite easily.”

    Ein Zitat aus einer Pater-Brown-Kurzgeschichte von Gilbert Keith Chesterton, The Invisible Man. Darin kann sich niemand erklären, wie ein zunächst nur vermuteter Mord in einem Mehrfamilienhaus geschehen und die Leiche verschwinden konnte. Niemand sah zur fraglichen Zeit jemanden zum Hauseingang hinein- oder herauskommen, obwohl es Zeugen gibt. Am Ende kommt heraus, dass der Mörder der Briefträger war. Er schlüpft buchstäblich unter der Wahrnehmungsschwelle der Zeugen hindurch, weil sein Erscheinen so alltäglich und selbstverständlich ist, dass sich niemand bewusst daran erinnern kann.

    Das wäre ein guter Aufhänger für ein Vorwort zu deinem Buchprojekt ...

    Schade, dass es mit Straubing nicht klappt, aber die Zeichen für einen regelmäßigen Austausch stehen ja bestens.

    Viele Grüße,

    Dietmar

    Viele Grüße aus Erding!

    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Hallo Dietmar,


    die Pater-Brown-Episode kannte ich noch nicht, sie müsste aber sehr zeitnah zu Sigmund Freuds Beobachtung zum Postkasten (aus der "Psychopathologie des Alltagslebens") entstanden sein. (Für die Einleitung habe ich schon zwei schöne deutschsprachige Passagen zur Auswahl, aber lese immer wieder gerne neue 'Kuriosa'; danke für den Hinweis.)

    Das - populärwissenschaftliche - Buch "Briefe!" von Simon Garfield (2015 in deutscher Sprache erschienen) dürfte trotz des Bezugs auf den englischsprachigen Raum auch hier bekannt sein, oder? Über die Suchfunktion habe ich hier nichts finden können.

    Da es hier schon so 'zur Sache' geht: Kennst Du (oder einer der anderen Mitlesenden) vielleicht einen guten (wissenschaftlichen) Aufsatz dazu, woher der enorme französische Einfluss in der Postpraxis im 18. Jahrhundert kommt? Ich habe immer nur Aussagen, aber keine Quellenangangaben dazu gefunden. Das wäre wunderbar.

    Besten Dank und beste Grüße!

    Philia

  • Hallo Philia,

    die Pater-Brown-Geschichte stammt von 1911, datiert also nach Freud, allerdings galt Chesterton nicht unbedingt als Freud-Anhänger. Gelesen scheint er ihn jedenfalls zu haben.

    Zum enormen französischen Einfluss: Spontan fällt mir dazu keine Arbeit ein. Was die Wirkmächtigkeit dieses Einflusses angeht, wäre ich mir jetzt eigentlich auch nicht so sicher, zumindest im deutschsprachigen Raum. Da sollten wir vielleicht zuerst auf Italien blicken (Stadtstaaten), wo viele Gepflogenheiten des privaten Briefverkehrs entstanden sind. Irgendwann könnten sich die Einflüsse dann im Kreuzungspunkt des wichtigen Thurn-und-Taxis-Stützpunkts Brüssel vermischt haben, den wir doch eher der burgundisch-französischen Geistessphäre zurechnen können.

    Einen echten französischen Einfluss auf die postalische Praxis sehe ich vor allem in der napoleonischen Epoche, auf dem Umweg über die Posten des Königreichs Westphalen und des Großherzogtums Berg, die als Vorbilder bei der Überwindung der undurchsichtigen Taxis-Tarifstruktur gedient haben könnten.

    Viele Grüße,

    Dietmar

    Viele Grüße aus Erding!

    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • ... da könnte ich nur ganz unwissenschafltich antworten: Korrespondenten waren im 18. Jahrhundert i. d. R. Adlige, die ihrem Idol, Ludwig XIV, in jeder Beziehung des Lebens nacheiferten, ergo auch in der Sprache, Schrift etc..

    Die frühen Fachtermini der Post wie Chargé, Recommandirt, poste restante usw.. haben alle einen französisch/italienischen Hintergrund, weil Handel und Wandel mit Oberitalien im ausgehenden 13. Jahrhundert durch die Kreuzzüge begünstigt, anstiegen und sich über die Schiene der Alpen in Richtung des Dt. Reichs, Burgund und Frankreich nach Norden migrierten.

    Liebe Grüsse vom Ralph

    "Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen." Vicco von Bülow aka Loriot.


  • Danke Euch beiden für Eure Gedanken dazu!

    Der Einfluss Napoleons kam mir auch erst in den Sinn (zusätzlich zu dem grundsätzlichen damaligen Bestreben, dem 'französischen Trend' nachzueifern).

    Nun habe ich mich aber gefragt, wieso selbst innerdeutsche Briefe häufiger mal mit französischen Aufschriften versehen sind, und habe die folgenden zwei Quellen gefunden (aus zeitgenössischen Briefstellern, also Ratgeberbüchern zum Briefeschreiben; teils von mir paraphrasiert):

    Die erste von 1808 aus Leipzig:

    Zitat

    Die Adressaufschrift soll nur noch auf deutscher Sprache geschehen, da es keine französischen Beamten mehr im Postamt gibt. „Man mache keine französische Aufschriften; denn eine französische Adresse auf einem deutschen Briefe ist Unsinn. Ehemals, als die Postämter mit französischen Postbedienten besetzt waren, war es nöthig, französische Ueberschriften zu machen, weil diese Herren kein Deutsch verstanden. Jetzt sind unsere Postbediente Deutsche und so können, so müssen nun auch unsre Aufschriften der Briefe deutsch seyn.“ (XLIII-XLIIII)

    1808 würde nun ja zur napoleonischen Besatzung passen, allerdings fand ich eine zweite Quelle, diesmal von 1789 aus Berlin, die somit 3 Jahre zu früh wäre:

    Zitat

    Die Adresse hat deutsch zu sein, „da die Postbedienten in Deutschland jetzt fast durchgängig Deutsche sind“; allerdings nur, sofern der Brief selbst auf deutsch geschrieben ist. (45)

    Dies impliziert ja, dass die Postbediensteten auch davor eher kein Deutsch gesprochen haben können. Ich kann mir da leider keinen Reim draus machen, aber das interessiert mich schon sehr (vielleicht habe ich auch einfach irgendwo einen Denkfehler begangen oder stehe auf dem sprichwörtlichen Schlauch).

    Der Brüssel-Spur, Erdinger, gehe ich gleich im Anschluss mal nach; vielleicht findet sich dort ja eine Antwort.

    • Offizieller Beitrag

    Zum Einfluss der französischen Post:

    Bei dem Aufbau der brandenburgischen/preußischen Post wurde teilweise französische Beamte angestellt, die insbesondere das Gebührensystem umstellten. Hierzu steht m.E. nach einiges bei H. Stephan: Geschichte der Preußischen Post

    In der napoleonischen Zeit erhielten die Vasallenstaaten des Rheinbunds Postsysteme nach französischem Muster. Davon ging ein nachhaltiger Einfluss auf die ab 1815 sich wieder etablierenden deutschen Postsysteme aus.

    In Russland waren beim Aufbau der Post im 18. Jahrhundert meines Wissens auch französische Beamte involviert.

    Gruß

    Michael

    Mitglied im DASV - Internationale Vereinigung für Postgeschichte

  • Hallo philia,

    ich weiß nicht, ab wann Französisch als Sprache der Diplomatie Einzug gehalten hat. Allerdings werden bestimmte Dinge immer noch in dieser Sprache ausgedrückt.

    Die Zeit Napoleons hat Deutschland viele organisatorische Dinge gebracht, die auch heute noch nachwirken. So basiert meines Wissens nach unser BGB auf dem Code Civil Napoleons. Hier am linken Niederrhein sind Rechtsanwälte seit der Zeit nicht auch Notare und umgekehrt. Auf der anderen Rheinseite ist das anders.

    Hier wurde bis vor ca 50-60 ein Regenschirm gerne als Parapluie bezeichnet und ein Bürgersteig als Trottoir. Den Vornamen Jean gab es früher oft und wurde Schang ausgesprochen. Außerdem gibt es hier seit der napoleonischen Zeit verschiedene französische Familiennamen wie Beaupoil oder LeBeau.

    In Italien war übrigens bis in die 50er-60er Jahre die Fremdsprache der Gebildeten. Erst seit Anfang der 60er wurde Englisch üblicherweise die erste Fremdsprche.

    Soweit ein kleiner Beitrag zum bis heute wirkenden Einfluß Napoleons.

    beste Grüße

    Dieter

  • Hallo philia,

    je mehr ich über die Zitate aus den Briefstellern und den Text aus der Enzyklopädie nachdenke, desto mehr drängt sich mir der Gedanke »Topos« auf. Dass die Korrespondenten nur deshalb noch im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert bevorzugt französische Adressen auf ihre Briefe schrieben, weil so viele Mitarbeiter der Taxis- und Landesposten im längst vergangenen 16./17. Jahrhundert Franzosen gewesen sein sollen, scheint mir weit hergeholt. Möglicherweise hat hier die Propaganda der deutschen Fürsten nachgewirkt, die die Taxis auf den Reichstagen mit Vorliebe als landesfremde Emporkömmlinge brandmarkten und ihren unternehmerisch erworbenen Reichtum kritisierten. Eher sollte man vielleicht die Durchsetzung des Französischen als europäische Kultursprache sowie Nachfolgerin des Lateinischen und seine Rolle als Indikator für sozialen Status (echt oder eingebildet) betrachten.

    Viele Grüße,

    Dietmar

    P.S. Wie Dieter schon so schön schreibt, haben sich noch lange Zeit französische Begriffe, zum Teil verballhornt, im Sprachgebrauch erhalten. In Bayern ließ bis vor 20 oder 30 Jahren niemand seine Zimmerdecke streichen, sondern den Plafond. In Wien weiß jeder, egal aus welcher sozialen Schicht, was ein Pompfüneberer ist, und die Fisimatenten sind in Berlin sprichwörtlich. Selbst dem schärfsten flämischen Nationalisten kommt ohne Weiteres Tapis plain über die Lippen, wenn er vom Teppichboden spricht. Wie sagte Frau Neureich doch so schön: »Leute, die dauernd Fremdwörter in den Mund nehmen, sind ja so prätentiös …«

    Viele Grüße aus Erding!

    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Hallo Dietmar,

    ich werfe nicht gerade mit Fremdworten um mich, obwohl sie zu meinem Vokabular gehören. Das hat mir meine Deutschlehrerin in der Oberstufe abgewöhnt. Sie hat sich immer sehr aufgeregt, wenn ich welche benutzte. Im Studentenwohnheim hat einige Jahre später jemand gesagt: Das müssen wir erst eruieren. Die Frau wäre vermutlich durch die Decke gegangen.

    Zum von Erwin vorgestellten Buch ist zu sagen, das es im trockenen, wissenschaftlichen Stil einer Doktorarbeit geschrieben ist. Etliches an Informationen, aber nicht einfach zu lesen.

    beste Grüße

    Dieter

  • Hallo Preußen_Fan,

    danke für den Hinweis! Das Buch habe ich mir nun über Fernleihe bestellt, es sollte in der nächsten Woche ankommen. Ich bin gespannt, es sieht vielversprechend aus!


    Bonjour Dieter und Dietmar,

    ja, die "Sprachverfremdungen" und der "übermäßige Einfluss der französischen Sprache" wurde bereits im 18. Jahrhundert stark kritisiert - letztlich orientierte sich lange alles am Trendsetter Frankreich -, weshalb sich dann im Barock auch sogenannte Sprachgesellschaften gründeten, die die 'deutsche Sprache rein halten wollten'. Seitdem ich Eure Beiträge las, suche ich fieberhaft nach einem Zeitschriftenbeitrag aus dem 19. Jahrhundert, der mir vor einigen Monaten unterkam - wenn ich mich recht entsinne, wurde darin von einer Anordnung (?) berichtet (ich meine es wäre Nadler gewesen, kann mich aber auch täuschen), worin die Verwendung deutscher Begriffe angeordnet wird. Also 'Aufschrift' statt 'Adresse', 'Umschlag' statt 'Kuvert', 'Empfänger' statt 'Adressat' usf. Bei Interesse reiche ich die Quelle gerne nach, so ich sie denn finde.

    Ich habe aber noch eine weitere Frage, zum Verständnis: Da ich noch nicht so viel Erfahrung mit der Recherche von verschiedenen Frankaturen habe, habe ich gestern noch einmal das tolle Lehrbuch von Helbig zur Vorphilatelie (1997) durchgeackert. Ich habe aber noch ein paar Fragen, die Euch sicherlich trivial vorkommen, ich sie aber trotzdem zur Sicherheit noch stellen will. Habe ich Folgendes richtig verstanden?

    "Porto: unbezahlte Gebühr (i.d.R. vom Empfänger im örtlichen Postamt oder beim Postboten zu zahlen) (verweigerte der Empfänger die Annahme, also die Zahlung des Porto, wurde der Brief zurückgesandt)

    Franko: bezahlte Gebühr (i.d.R. vom Absender gezahlt); Hinweis: "franco"/"frey" oder Stempel "P.P." = Porto payé

    Teilfranko: vom Absender teilweise bezahlte Gebühr; der restliche Betrag wird vom Empfänger getragen. Das inländische Teilfranko ist zwingend, das ausländische Teilfranko optional vom Absender zu entrichten. Der Frankierungspunkt -- also der Ort, bin wohin das Franko entrichtet wurde -- muss auf dem Brief angegeben werden, oft mit dem Vermerk "frey bis X"; teilweise auch vermerkt als "½ frey" (oft auf der Adressseite in der linken unteren Ecke)

    Weiterfranko: bezahlte Gebühr eines fremden Postgebiets

    Abgesehen von Österreich und England notierten nahezu alle Postverwaltungen die Portogebühren auf der Briefvorderseite, also der Adressseite, und die Frankogebühren auf der Rückseite, wenn auch mit individuellen Abweichungen. Erst mit Einführung der Frankomarken oder Freimarken, später Briefmarken, wandert der Frankovermerk auf die Vorderseite -- die Marke ist der Beleg dafür, dass die Gebühr gezahlt wurde."

    Habe ich das soweit richtig verstanden?

    Und noch eine Frage habe ich: War es Absendern überhaupt immer möglich, die komplette Frankogebühr zu zahlen, oder musste ein Teil der Gebühr (Porto) vom Empfänger gezahlt werden (z.B. bei langen Transportwegen über mehrere Zuständigkeitsbereiche hinweg)?

    Vielen Dank im Voraus und viele Grüße

    Philia

  • Hallo Philia,

    das Prinzip hast du richtig verstanden. Leider wurden viele Postverwaltungen im 19. Jahrhundert verbal etwas schlampig und schrieben nur noch "Porto", auch wenn sie das Franko meinten. Wir in der Postgeschichte (PO) unterscheiden klar zwischen Porto und Franko, weil wir sonst aneinander vorbei reden würden.

    Zu deiner letzten Frage: Es waren immer Postverträge, die zwischen 2 Postgebieten geschlossen wurden. Bei Briefen über mehrere Postgebiete war zu schauen, welche Informationen welche Postgebiete an ihre Postbediensteten weitergaben bzw. an die Kunden.

    Es gibt Briefe, die voll über mehrere Postgebiete vom Absender bezahlt wurden, es gibt welche, die frankiert werden mussten (sog. Frankozwang) und andere, die nicht frankiert werden konnten (bei Grenzfrankozwang nur Bezahlung bis zu einem Punkt möglich, der Rest war Sache des Empfängers).

    Desweiteren müsste noch unterschieden werden, welchen Status das Poststücke hatte - also Briefpost frankierbar, Fahrpost nicht, Reco zu frankieren, gewöhnliche Post porto oder franko usw..

    Liebe Grüsse vom Ralph

    "Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen." Vicco von Bülow aka Loriot.


  • Hallo Ralph,

    prima, herzlichen Dank für Deine Aufklärung! Eine kleine Nachfrage habe ich noch zu Deinem letzten Absatz: Inwiefern unterscheiden sich "Briefpost" und "gewöhnliche Post" voneinander, oder sind die Begriffe synonym?


    Hallo Dietmar,

    perfekt, genau das ist es, was ich gesucht habe! Herzlichen Dank!

  • Hallo Philia

    NB noch eine Bemerkung Zum Einfluss der französischen Post..

    J 1487 Königliche Französische Post mit Mitbenutzung allgemeines Volkes - hier ist die erste schriftliche Erwähnung Wortes Postes nachweisbar. Der Deutsche Keißer Maximilian I hat der Franz von Taxis Titel Generalpostmeister nach dem fr. Vorbild verliehen. Dies sind schon die erste Amtliche Bezeichnungen in de. Postwesen welche man aus fr. übernommen hat...und die Taxis haben vieles bei Franzosen abgeschaut.

    LG A

    "Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben."
    W. v Humboldt