Liebe Freunde,
in Auktionskatalogen stößt man immer wieder auf Unikate, manchmal sogar auf »einmalige Unikate« (den Pleonasmus beherrschen Losbeschreiber aus dem Effeff, ohne ihn zu kennen) oder auf ein »Unikat – Adelsbrief mit komplettem Inhalt der Königin Marie« (weiß nicht, ob ich diesen Brief wirklich haben möchte …).
Ich finde den Ansatz von Erwin mit bis zu drei Stücken daher sehr sympathisch, weil der Begriff des Unikats als Indikator für Seltenheit erstens gefühlt inflationär gebraucht wird und zweitens immer relativ betrachtet werden muss: einzigartig nach aktuellem Kenntnisstand.
Von dieser Entwertung ist auf Brief einem Attest von 2005 zufolge nur dieses Exemplar bekannt (mir ist seither kein weiteres bekannt geworden). Lose Marken gibt es dem Vernehmen nach ein paar, was zumindest zeigt, dass es sich nicht um einen einmaligen Ausrutscher handelt.
Was hat den Expeditor bewogen, diesen Stempel auf der Marke abzuschlagen?
Laut dem Handbuch von Karl Winkler kommt der Stempel 1869/70 auf 3-Kreuzer-Marke vor. Meines Erachtens ist der Brief aus dem Jahr 1867 (Inhalt gibt es keinen, aber einen etwas undeutlich abgeschlagenen Ankunftstempel von Regensburg). Das bedeutet, vorgeschrieben gewesen wäre eigentlich ein Mühlradstempel als Entwerter auf der Marke. Wenn der gerade – aus welchen Gründen auch immer – nicht greifbar gewesen wäre, hätte man auch den erkennbar vorhandenen Ortsaufgabestempel abschlagen können – es gab genügend Expeditoren, die in dieser Hinsicht keinerlei Hemmungen hatten. Dies trifft auch für den Fall zu, dass der Brief vom Mai 1869 sein sollte – da hätte der Ortsaufgabestempel ganz vorschriftsmäßig ausgereicht. Dass die Entwertung im Ort vergessen und am Bahnhof nachgeholt oder als Übernahmestempel der Bahnpost abgeschlagen wurde, kann man ausschließen – die Bahn kam erst 1874 nach Abbach.
Am wahrscheinlichsten ist daher eine aushilfsweise Verwendung als Ersatz für einen Mühlradstempel, also ein »Aushilfsstempel«. Bayernsammler legen seit dem 1975 veröffentlichten kleinen Buch von Georg Winkler den Begriff sehr weit aus. Er umfasst sowohl amtlich ausgegebene Behelfsstempel (etwa aufgrund einer nötig gewordenen Reparatur des regulären Stempelwerkzeugs) als auch Entwertungen mit örtlich vorhandenen Formular- oder anderen Stempeln aus unbekannten Gründen.
Einer der bekanntesten Fälle der letzteren Gruppe ist der Einzeiler von Siegenburg, der auf geschnittenen Wappenmarken lose gar nicht selten, auf Brief immerhin nicht häufig ist, auf gezähnten (und auf geschnittenen Ziffernmarken) jedoch überaus rar. Hier haben wir die absurde Situation, dass der Formularstempel über einen so langen Zeitraum als Entwerter verwendet wurde, dass von einem Aushilfsstempel eigentlich gar nicht mehr die Rede sein kann. Es ist nach meinem Eindruck schwerer, in diesem Fall einen Brief mit Wappenmarken und Mühlradstempel zu finden als einen mit dem sogenannten Aushilfsstempel.
Wie man sieht, ist Seltenheit durchaus relativ – bei dem Abbach-Brief auf jeden Fall zutreffend, weswegen ich mich sehr freue, ihn in meiner Sammlung zu haben, in der wenige teure Briefe einer Vielzahl von preisgünstigen, aber teilweise nicht minder seltenen Stücken gegenüberstehen.