1870/71 kriegsbedingte Leitungen über Italien

    • Offizieller Beitrag

    Liebe Freunde,


    der folgende Brief gehört zwar nicht zu meinen direkten Sammelgebieten, aber er war zu interessant, um ihn liegenzulassen ... :)
    Briefe aus St. Petersburg nach Frankreich wurden in den 1860/70er Jahren sicherlich in 99% der Fälle über Preußen geleitet. Die Leitung über Österreich war 1870 nicht nur langsamer sondern auch teurer - daher sprach normalerweise nichts für diesen Leitweg. Dies galt für russische Korrespondenz allgemein aus dem nördlichen Russland. Für Briefe aus dem Süden (Odessa, Berdiansk, Taganrog, Mariupol usw.) war die Leitung via Österreich dagegen noch immer eine gute Alternative.


    Hier ein Brief aus St. Petersburg vom 12.11.1870 (jul.) nach Manneville près St. Valéry en Caux , France Dépt. de la Seine Infér(ieur) (heutige Normandie). Als Leitweg war par Bruxelles (Belgique) gewünscht.
    Die Post war wohl besser über die politischen/militärischen Ereignisse als der Absender informiert und leitete den Brief südlich über Wien. Von der österreichischen Post ging es dann via Italien nach Frankreich - Stempel AUTRICHE-LANS-LE-BOURG AMB. Über das angegebene Saint Valery en Caux ging es dann nach (Thil-) Manneville.



    Der Brief war mit 26 Kop. schon für die Leitung via Preußen unterfrankiert (28 Kop.), für den Weg über Österreich reichte es erst recht nicht (34 Kop.). Dennoch stempelte Wien neben A. noch P.D. und gab sich anscheinend damit zufrieden.
    Für die vorderseitige 22 1/2 habe ich keine rechte Erklärung. Hat jemand Ideen dazu?


    Gruß
    Michael

    Mitglied im DASV - Internationale Vereinigung für Postgeschichte

  • Lieber Michael,


    Gratulation zu dem Schmuckstück - da hätte ich auch zugegriffen.


    Bei einer funktionierenden Kriegsleitung hätte man eigentlich der Vorgabe des Absenders entsprechen müssen, zumal Briefe nördlich von Mainz via Belgien, südlich davon via Schweiz geleitet werden sollten.


    Da Österreich keine halben Neukreuzer kannte, Frankreich keine halben Decimes bzw. Centimes, könnte nur Italien mit halben Decimi die 22 1/2 notiert haben, aber das scheint mir a) zu viel und b) kenne ich keine italienischen Rötel in dieser Zeit. Preußen bzw. der NDB hätte, wäre man involviert gewesen, in halben Groschen notieren können, aber 22 1/2 Groschen wären auch da viel zu viel gewesen und wo bliebe dann die Reduktion in französische Francs?


    Was sein könnte: Briefe wurden oft nummeriert und wenn ein Brief abhanden kam und der Empfänger dies dem Absender schrieb, kam ein neuer Brief und dieser wurde dann nicht zur Nr. 22, sondern zur Nr. 22 1/2, um optisch zu demonstrieren, dass zwischen den 21. und 23. einer nicht angekommen war. Ob das hier so war?

    Liebe Grüsse vom Ralph



    "Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen." Vicco von Bülow aka Loriot.




  • Hallo zusammen,

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    der w.o. gezeigte Beleg ist wirklich sehr interessant, denn ich wundere mich schon seit einiger Zeit darüber, dass auch von anderen Experten immer wieder von einem nahezu routinierten Postaustausch über Belgien in das von den deutschen Truppen noch nicht besetzte Frankreich ausgegangen wird. Das mag bis Anfang November 1870 noch wie üblich über Valenciennes möglich gewesen sein, danach kann ich mir das so einfach allerdings nicht mehr vorstellen.

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    Um den seit September bestehenden Belagerungsring von Paris zu schützen, drangen deutsche Verbände gegen Ende Oktober in etwa auf die Linie Arras - Amiens - Rouen (vgl. Karte anbei) gegen die sich in Nordfrankreich bildende Nordarmee vor, welche ihr Hauptquartier bereits an die belgischen Grenze bei Lille gedrängt liegen hatte. Mit dem Vordringen deutscher Verbände südlich der Somme und nördlich der Seine wurde der Korridor zum Ärmelkanal zunehmend enger.

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    Genau am 5. Dezember 1870, d.h. als der w.o. gezeigte Brief an der Küste in St. Valéry en Caux angekommmen war, konnte General von Goeben die davon ca. 60 km weiter südöstlich gelegene Stadt Rouen einnehmen. Danach wird auch der Weg, den der Brief über Südfrankreich genommen hat kaum mehr möglich gewesen sein. Denn in dem noch ca. 90 km breiten Korridor bis nach Le Havre kam es bis zum Jahresende 1870 zu heftigen Kämpfen und zur Zerstörung der nach dorthin laufenden Eisenbahnlinie, ganz bewusst, um den Zugang zum unbesetzten Süden von Frankreich abzuschneiden.

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    Es mag dann zwar immer noch so gewesen sein, dass der Auslandpostaustausch nach/von Belgien mit dem noch unbesetzten Teil Nordwestfrankreichs bspw. über Lille, vielleicht sogar auch immer noch über Valenciennes möglich, gewesen ist. Aber das war zu diesem Zeitpunkt und angesichts der Schnelligkeit der Operationen im dt-franz. Krieg 70/71 wohl alles andere als sicher, sonst hätte man nicht schon vorher dann den weiten Weg über Wien / Südfrankreich genommen.

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    Viele Grüße

    vom Pälzer

  • Hallo Pälzer,


    aufgrund der Besetzung Rouens durch deutsche Truppen am 5. Dezember 1870 richtete die Französische Post für Korrespondenzen aus dem, bzw. über den Norddeutschen Bund in die unbesetzten Teile Frankreichs zwei alternative Postrouten ein:


    1. Mit leichten Booten der französischen Marine zwischen Calais und Cherbourg (6.12.70 - 17.12.70)
    2. Über Calais nach England über Dover und Southampton nach Cherbourg (6.12.70 - 13.1.71)


    Den Anschluß ab Cherbourg unterhielt die Eisenbahnlinie Caen nach Le Mans.


    Beide Routen waren absolut sicher und wurden durchgehend befahren.


    Gruß
    1870/71

  • Hallo 1870/71,

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    auch das hochinteressant, routiniert war für die französische Post sicherlich jedoch anders. Wie sah es via Belgien aus ? Konnte man bis Kriegsende via Valenciennes gehen ? Bereits der Raum weiter südlich um Cambrai war ja unsicher / umkämpft und die Schelde von den deutschen Truppen erreicht.

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    Grüße

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    vom Pälzer

    Wer um Postgeschichte einen Bogen macht, läuft am Schluss im Kreis

    Einmal editiert, zuletzt von Pälzer ()

  • Hallo Pälzer,


    der Postverkehr zwischen Frankreich und dem Norddeutschen Bund / Deutsches Reich lief während des gesamten
    Krieges über Belgien und die unbesetzten Departements Nord und Pas-de-Calais.


    Der Grenzübergang Valenciennes wurde vom 12. September bis 27. November 1870 genutzt.


    Gruß


    1870/71

    Einmal editiert, zuletzt von 1870/71 ()

  • Hallo Sammlerfreunde,.


    mit dem anbei abgebildeten Stück soll zunächst Bezug auf Ziffer 2 aus dem vorstehenden post4 genommen werden.
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    ...aufgrund der Besetzung Rouens durch deutsche Truppen am 5. Dezember 1870 richtete die Französische Post für Korrespondenzen aus dem, bzw. über den Norddeutschen Bund in die unbesetzten Teile Frankreichs zwei alternative Postrouten ein:


    1. Mit leichten Booten der französischen Marine zwischen Calais und Cherbourg (6.12.70 - 17.12.70)
    2. Über Calais nach England über Dover und Southampton nach Cherbourg (6.12.70 - 13.1.71)

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    Bei dem Absender handelte es sich um einen französischen Kriegsgefangenen, der sein Schreiben nach Caen ins Departement Calvados adressierte - mit dem Zusatz Voie de Genéve. Letzteres deutet wohl an, dass der Postaustausch über die neutrale Schweiz (Genf) erfolgen sollte. Der für Kriegsgefangenenpost obligatorische Zusatz: Portofrei laut Verfügung vom 7. Aug. 1870 wurde augenscheinlich von jemandem anderes verfasst, sehr wahrscheinlich von einem Angehörigen der Einheit, welchem der Gefangene zugeordnet war.

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    Der hierzu rückseitig abgeschlagene Truppenstempel ist jener der Großherzoglich Mecklenburgischen 34. Infanteriebrigade / Schwerin, welche zunächst an den Belagerungen von Metz, Toul und Paris sowie an zahlreichen Gefechten an der Loire teilgenommen hattte. Mit gleicher Tinte wurde nun anders ein Leitweg via Belgien angegeben, womit sich nunmehr die Frage stellt, ob der kleine Brief dann den Weg wie unter obiger Ziffer 2 über England gelaufen ist.

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    In Caen musste etwa eine Woche später anscheinend 2 x zugestellt werden.


    Viele Grüße
    vom Pälzer